Tagebucheintrag vom 3. Oktober 1989
3. Oktober 1989
Dienstag in Leipzig, d. 3. Oktober (am Morgen)
Am Wochenende sind die sich in den BRD-Botschaften in Prag und Warschau aufhaltenden Leute mit Zügen der DR über das Territorrium der DDR in die BRD »ausgewiesen« (abgeschoben lt. LVZ !!!) worden.
Unser Land verliert langsam das Gesicht – nicht nur die Leute!
Die Aktion (bei Nacht und Nebel) wird in den Medien als »humanitärer Akt« überschrieben. Vor über 14 Tagen, als Ungarn selbiges veranlasste, haben unsere Medien sich über eben diesen Begriff mokiert! …
Gestern dann nach der allmontäglichen Friedensandacht in der Nikolaikirche ein Riesenaufgebot an mit Schlagstöcken bewaffneter Polizei, die die Tausende (die BRD-Medien reden von 15.000 – ich selbst schätze 20 – 25.000) von Demonstranten kaum aufhalten konnten. Der Strom zieht zum Bahnhof mit beeindruckenden Sprechchören wie: »Wir bleiben hier«, »Neues Forum zulassen«, »Gorbi« u. dgl. – durchbricht verschiedene Absperrungen, biegt Richtung »Konsument« um und durchbricht neue Polizeiketten. Und: bleibt friedlich, ja lässt nicht einmal falsche Losungen zu, umzingelt die Polizei mit vielstimmigem Chor: »schämt euch was – schließt euch an« …
Der Zug zieht um die »Runde Ecke«, wird dünner, bleibt mächtig, will die überholenden Polizeieinheiten nicht durchlassen, die aber mit hohem Tempo drauflos fahren und die Leute fast überfahren. Die Menge brost, ist entsetzt, ungehalten. Zwischen Thomaskirche und Topas steht eine neuerliche Polizeikette, die bald durchbrochen wird.
Aber plötzlich rücken Einheiten von beschildeten und mit Helm versehenen Polizisten vor, die hinter uns absperren, eine Reihe bilden und die Masse – mit den Knüppeln gegen die Schilde trommelnd – durch die Innenstadt hetzen, die Grüppchen zersplittern, aufreiben, jagen, auf den Markt treiben letztlich, bis von hinten aus der Grassistraße Polizei und Kampfgruppen angerannt kommen und in die Enge treiben und nur die Flucht zum Sachsenplatz bleibt.
Wenig später verkrümel ich mich, sehe nur noch das Großaufgebot von gepanzerter Polizei vom Schauspielhaus in die Innenstadt einrücken. Der Rest muss bluten …
Sprechchöre: »Keine Gewalt«. »Wir wollen kein Neu-China«. »Eins, zwei, drei Knüppelpolizei« und »Nazis raus« beeindrucken die Polizei nicht …
Und in der Zeitung:
»Ordnung und Sicherheit gestört
Am Montagabend kam es in der Leipziger Innenstadt erneut zu einer ungesetzlichen Zusammenrottung größerer Personengruppen, die die öffentliche Ordnung und Sicherheit störten und den Straßenverkehr der Innenstadt beeinträchtigte.
Den Maßnahmen der Deutschen Volkspolizei zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit wurde aktiver Widerstand entgegengesetzt, Volkspolizisten angegriffen und Einsatzfahrzeuge beschädigt. Duch das besonnene und entsprechend der Lage konsequente Handeln der Deutschen Volkspolizei mit Unterstützung von Kampfgruppen der Arbeiterklasse wurde die Zusammenrottung aufgelöst und die Ordnung und Sicherheit wieder hergestellt.
Der Einsatz von Hilfsmitteln der Deutschen Volkspolizei war unumgänglich. Es waren Zuführungen erfolderlich. Die strafrechtlichen Konsequenzen werden geprüft.« …
WAS SOLL NUR WERDEN?
Die Bonner Botschaft in Prag ist vor 48 Stunden nach der Leerung wegen Überfüllung geschlossen. 5.000 Leute! 1000 vor der Tür! In Warschau zw. 300 und 400 Leuten. …
3. Oktober ’89 - Am Abend:
Der visafreie Reiseverkehr in die CSSR ist »zeitweise aufgehoben« – die Grenze dicht!!! Die sich jetzt in der Bonner Botschaft in Prag aufhaltenden DDR-Bürger fahren heute ab 20:00 Uhr im Zwei-Stunden-Rhythmus über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik. Es wird von 11.000 gesprochen!